100 – in Worten: Einhundert
Aus dem Leben eines Hundertjährigen
nun haben wir auf der Facebookseite unserer Praxis die Grenze zu 100 „likes“ überschritten. Anlass, auch in anderer Hinsicht über die „100“ nachzudenken.
Die Zahl 100 hat in Kulturen, die im Dezimalsystem rechnen, erwartungsgemäß eine hohe Bedeutung, da sie die Quadratzahl der 10 ist. Zehn mal die Zehn ist in gewisser Weise die Vollendung. Der Mensch hat 10 Finger (ausgenommen ´ne handvoll Schreiner ) und 10 Zehen, Mose erhielt die 10 Gebote und eine traditionelle, auf die Bibel zurückgeführte Steuer, ist der Zehnte.
Viele Menschen erschrecken, wenn sie beim Älterwerden an ein Vielfaches der Zehn stoßen. 53 Jahre alt zu werden ist nicht so tragisch und bedeutsam, wie die 50 erreicht zu haben. Bedeutsam ist, wem oder was wir Bedeutung beimessen. Weil wir gewohnt sind, in 10er Schritten zu denken, sind die „runden“ Geburtstage von besonderer Bedeutung. Würden wir, wie früher in vielen Regionen üblich, in 12er Schritten (Dutzend) rechnen, wäre der 48. Geburtstag bedeutsam, aber nicht der 50.
In diesem Monat ist mein Vater 100 Jahre alt geworden. Das war für mich auch Anlass, über sein langes und ereignisreiches Leben nachzudenken. Was ist da nicht alles passiert! Mein Vater ist im zaristischen Russland als Enkel eines Großgrundbesitzers (ca. 100 qkm) geboren und in der Ukraine aufgewachsen. Als Nachfahre eines Auswanderers aus der Pfalz zu Zeiten Napoleons lebte er in einem deutschen Dorf. Als kleines Kind musste er den 1. Weltkrieg miterleben und den Umsturz in Russland, die Oktoberrevolution. Sein Vater floh ins Ausland, seine Mutter durfte erst 1925 mit den beiden Kindern dank einer Familienzusammenführung des Roten Kreuzes nach Paris ausreisen. In Frankreich baute sich die Familie eine neue Existenz auf. Mein Vater musste als 12jähriger eine neue Sprache lernen (und nebenbei auch noch nachträglich russisch). Keine 15 Jahre später wurden die neu aufgebaute Existenz und alle geschmiedeten Pläne durch den 2. Weltkrieg über den Haufen geworden. Er geriet als Sanitäter in deutsche Kriegsgefangenschaft, wurde aber aufgrund der Genfer Konvention bald entlassen und „eingedeutscht“. Nun begann wieder ein neuer Lebensabschnitt. Die Jahre in Deutschland hatten auch viele Aufs und Abs.
Wenn ich mir sein Leben als Ganzes anschaue, darf ich sagen, dass mein Vater immer eine dankbare und zufriedene Grundhaltung hatte. Trotz vieler materieller und trotz vieler menschlicher Verluste (1 Bruder, beide Eltern, 2 Ehefrauen, 1 Sohn, um nur die engsten Familienangehörigen zu nennen) habe ich ihn niemals klagen hören. Er besitzt einen unerschütterlichen Glauben, von dem er sich auch nicht durch Kriege, schwere Krankheiten (z.B. Krebs) oder materieller Einbußen abbringen ließ. Er nahm das Leben an, wie es kam. Er war stets optimistisch und dankbar für das, was war, statt über das zu jammern, was hätte sein können.
Selbst jetzt im hohen Alter, wo er blind und pflegebedürftig geworden ist, klagt er nicht. Stets ist er zufrieden. Das entspringt einem inneren Frieden, den er mit sich, der Welt und Gott gefunden hat. 100 Jahre, 1000 Erlebnisse und ungezählte Eindrücke.
Auch er hinterlässt einen Eindruck. Nicht nur bei mir, weil ich sein Sohn bin. Menschen, die mit ihm zu tun hatten, sind von seiner Toleranz und seinem Bestreben nach Ausgleich und Harmonie angetan. Er ist und war beliebt, weil er die Menschen mochte. 100 Jahre. Beeindruckend. Nicht allein wegen der Quantität der Jahre. Er hat es verstanden, dem Leben auch Qualität zu geben.
Wir haben vielleicht nicht das gleiche Lebensalter vor uns, das er nun erreichen durfte. Aber wir alle haben die Wahl, wie wir das Leben gestalten.
© Matthias Dauenhauer