Was nicht gesagt werden sollte

Oft schon haben mir Menschen von Streit erzählt, den sie hatten, von Auseinandersetzungen mit dem Partner oder der Partnerin, von Streit mit den Kindern oder mit sonstigen Mitmenschen. Dabei höre ich oft Dinge, die mich erschrecken. Da werden Sachen gesagt, die meiner Meinung nach besser nicht gesagt würden.

Sicher, auch ich ärgere mich bisweilen über meinen Mann. Ja, dabei kommt es auch vor, dass ich in meinen ärgerlichen oder verletzten Gedanken Worte verwende, die sehr abwertend und abschätzig sind, die ihn entwürdigen und sehr verletzen würden, wenn er sie hören könnte. Aber ich habe mir vorgenommen, diese Worte nicht über meine Lippen zu lassen. Ein gesprochenes Wort kann ich nicht mehr zurück nehmen. Und Worte können schlimme Verletzungen verursachen, die über lange Jahre nicht heilen. Sie können in der Beziehung immer für eine bestimmte Spannung sorgen, über alles einen bestimmten Film legen, durch den das Schöne mit Vorsicht genossen wird, wo ein liebes Wort oder Kompliment schnell mit einem „aber“ gehört wird, weil aus demselben Mund eben auch schon diese schlimmen, verletzenden Worte gekommen sind. Das ist dann nicht mehr umkehrbar. Und wie viele vergessen solche Worte nicht, nie?!

Ich denke, es gibt eine Art Liste an Wörtern und Formulierungen, die ich Menschen gegenüber nicht verwenden sollte, jedenfalls ganz sicher nicht Menschen gegenüber, die mir wichtig sind. Wertungen gehören für mich dazu, also so was wie „du bist doch ein echtes A….“. Denken erlaubt, aussprechen nicht! So ist meine Meinung.

Worte wirken, immer! Und ihre Wirkung ist nicht zu unterschätzen. Wir können mit Worten einen Menschen motivieren, schier Unmögliches zu leisten (schmerzhafte ärztliche Prozeduren durchhalten, gefährliche Situationen überstehen, Höchstleistung bringen im Sport oder woanders). Und wir können mit Worten verheerende Schäden anrichten. Das wird uns schnell bewusst, wenn jemand uns gegenüber mit Worten verletzend wird. Aber haben wir das auch im Blick, wenn wir anderen im Ärger begegnen? Wie oft erwarten wir, der andere solle doch. Und wir selbst?

Wie soll ich vor meinem Partner noch Respekt haben und ihn gar lieben, wenn er mich mit Schimpfwörtern, Beleidigungen und Herabsetzungen traktiert? Kann ich erwarten, dass ich noch geliebt und geachtet werde – was mir sicher wichtig ist – wenn ich meinen Partner so tituliere?

Oft denke ich in meiner Arbeit, dass es in Beziehungen besser aussähe, wenn beide Seiten mehr Sorgfalt darauf legen würden, was sie dem anderen sagen. Ich meine nicht, dass ich alles erdulden muss in einer Beziehung, dass ich Ärger immer runter schlucken sollte. Aber es gibt verschiedene Möglichkeiten, auf diesen Ärger zu reagieren. Und unter diesen Möglichkeiten gibt es solche, die noch respektvoll sind und dem anderen seine Lebensmöglichkeit und Würde lassen. Dazu ist es manchmal hilfreich, im ersten Moment doch zu schweigen, den spontanen Zorn bei sich zu behalten und mit etwas Abstand die Worte zu wählen, mit denen ich dem anderen sagen kann, dass es nicht ok war, was er/sie getan oder gelassen hat. Es darf ausgesprochen werden, wenn ich unzufrieden bin oder der andere mich ärgert. Aber im Zorn gesprochene Beschimpfungen wirken lange nach und sollten deswegen unterbleiben.

© Ulrike Dauenhauer

Eine kleine Klogeschichte oder: Vom richtigen Zeitpunkt

Der richtige Zeitpunkt entscheidet nicht selten über Gelingen oder Misslingen eines Vorhabens. Für Saat und Ernte gibt es wenige „richtige“ Zeitpunkte, aber viele falsche. Das Zeitfenster für den Erfolg ist manchmal recht klein.

Aus dem Alltag kennen wir zahlreiche Situationen, in denen ein Ereignis genau zum „falschen“ Zeitpunkt eintritt, dann nämlich, wenn wir es am wenigsten brauchen können: Irgendwann braucht unsere Kaffeemaschine frische Bohnen, aber warum gerade dann, wenn ich es besonders eilig habe!? Und nachdem ich die Bohnen nachgefüllt habe, blinkt die Meldung: „Wassertank leer“. Zu allem Überfluss soll anschließend auch noch der Trester geleert werden, bevor man sich den Espresso herauslassen kann. Irgendwie kommt dann alles zusammen – zum falschen Zeitpunkt. Dann, wenn man keine Muße und keine Zeit hat.

Tante Frieda spreche ich eigentlich gerne, aber warum ruft sie genau dann an, wenn ich gerade auf dem Klo sitze und Sudoku spiele! Apropos Klo. Auch hier hat wahrscheinlich jeder schon mal erlebt, wie es sich anfühlt, wenn man sich zu spät auf den Weg gemacht hat … dann hat man auf den Weg oder zumindest in die Hose gemacht. Eine Klogeschichte der besonderen Art hat sich in meiner Familie ca. 1919 zugetragen:

Mein Großvater Nikolaus lebte in einem deutschen Dorf in der Nähe von Odessa und bewirtschafte ein größeres Gut. Er war verheiratet und hatte zwei Söhne, als die Oktoberrevolution ausbrach. Seine deutsche Herkunft und sein Vermögen machten ihn zur Zielscheibe der Kommunisten. Zudem war er Offizier in der zaristischen Armee. Die ganze Großfamilie – er hatte 11 Geschwister – wurde in alle Winde zerstreut, kam nach Sibirien oder wurde erschossen. Er selbst floh westwärts nach Polen und kam dort in ein Lager. Deutschland nahm damals keine volksdeutschen aus Russland auf. Er hatte keine Ahnung, was aus seiner Familie und Verwandtschaft geworden war. Informationen waren schwer zu beschaffen. Das Lagerleben war nicht einfach, Krankheiten grassierten, Nahrungsmittel waren knapp. An Luxus war schon gar nicht zu denken. Toiletten mit Wasserspülung? Luxus! Toilettenpapier? Luxus! Stattdessen gab es Plumpsklos, auch Donnerbalken genannt, und Zeitungsfetzen, um sich den Hintern zu säubern. Da es auch kein Radio oder Lesestoff gab, gewöhnte man sich an, auf der Toilette Zeitung zu lesen, bevor man sie als Klopapierersatz benutzte. Eines Tages passierte etwas Unglaubliches, extrem Unwahrscheinliches. Er „musste“ mal wieder, hatte ein Bedürfnis. Er ging aufs Klo – zum richtigen Zeitpunkt! Nicht zu früh und nicht zu spät. Er sitzt auf dem Donnerbalken und nimmt sich das oberste Zeitungsblatt. Wie gewohnt liest er es – es war so ziemlich der einzige Lesestoff, den man kriegen konnte. Seine Augen bleiben auf einer Suchanzeige hängen: „Raphael Dauenhauer z. Z. in Südfrankreich sucht seinen Bruder Nikolaus. Meldung bitte an …“. Er traute seinen Augen nicht. Sein jüngerer Bruder hatte sich nach Frankreich durchgeschlagen und in einer Zeitung nach ihm inseriert. Wie diese Zeitung nach Polen kam? Niemand weiß es! Was gewesen wäre, wenn mein Großvater Verstopfung gehabt hätte? Oder er ein anderes Plumpsklo benutzt hätte? Oder ein anderer vor ihm aufs Klo gemusst hätte? Das weiß jeder: Sie hätten sich wohl nicht gefunden, jedenfalls nicht so bald. Aber Großvater musste aufs Klo – zum genau richtigen Zeitpunkt!

Es gibt in vielen Bereichen den „richtigen“ Zeitpunkt. Aus der Entwicklungspsychologie weiß man, dass es Zeitfenster gibt, in denen Kinder optimal eine Fremdsprache oder ein Musikinstrument lernen können. Im zwischenmenschlichen Bereich hat jeder schon erlebt, dass sein Gegenüber in manchen Momenten oder Lebensphasen nicht ansprechbar ist, weil er mit einer anderen Sache innerlich beschäftigt ist. „Belegt“, könnte man sagen! Wenn man den richtigen Zeitpunkt erwischt, ist vieles möglich. Kaum jemand wird zu seinem Chef gehen, und um eine Gehaltserhöhung bitten, nur weil einem selbst gerade danach ist. Man wird sich überlegen, wann es geschickt ist, den Chef zu fragen und falls er an diesem Tag in schlechter Stimmung ist, wird man sein Vorhaben verschieben. Es gibt für viele Dinge den rechten Zeitpunkt.

Allerdings gibt es auch Dinge, für die es scheinbar nie d e n richtigen Zeitpunkt gibt. Es ist scheinbar immer ungünstig, es jetzt zu tun. Wenn dem so ist, dann könnte man aber auch sagen: es ist egal, wann ich es tue, es ist immer zugleich der richtige Zeitpunkt. Dann heißt es: Mach ´s gleich!
Schon in der Bibel ist das Phänomen des richtigen Zeitpunktes beschrieben: „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekommen …“ (Markus 1:15). Hier steht in der griech. Sprache „Καιρός“ (kairos), was nicht einfach einen zeitlichen Termin oder ein Datum meint, sondern den günstigen Moment, den es beim Schopfe zu packen gilt. Im Gegensatz dazu wird der Begriff Chronos (χρόνος) gebraucht, der einen – oft auch längeren – Zeitabschnitt meint. Die Menschwerdung Gottes geschah nicht einfach irgendwann, sondern prophetisch vorhergesagt zum optimalen Zeitpunkt.

Auch in unserer psychotherapeutischen Arbeit erleben wir immer wieder, dass es im gesamten Verlauf (Chronos) gilt, den richtigen Moment (Kairos) für Veränderungen und Weichenstellungen zu finden. Der gleiche Rat, dieselbe Intervention, eine identische Hilfestellung: zum falschen Zeitpunkt bleibt sie ohne Wirkung. Aber im richtigen Moment eingesetzt, bringt sie viel in Bewegung.

An dieser Stelle ist der richtige Zeitpunkt, den Artikel zu beenden. Sonst würde er zu lang. Also denn: ich wünsche uns allen das gute Gespür für den richtigen Zeitpunkt, um unser tägliches Leben zu meistern.

© Matthias Dauenhauer