Gedanken zuschauen

Der Geist gleicht einer Mauer, an der wechselnde Gedanken vorüberziehen. (Hildegard von Bingen) - www.doppelpunkt-praxis.de

Ich hatte jetzt zwei freie Tage, war unterwegs und habe das genossen. Draußen, Grün, Wasser. Das ist für mich immer eine gute Kombination. Vor eine Mauer saß ich nicht. Eher schaute ich auf Wasser und Grün. Aber ich spürte dieses Vorüberziehen der Gedanken.

Genau das ist es, was ich an solchen Auszeiten so liebe und so erholsam finde. Da ist die Gelegenheit, diesem Vorüberziehen der Gedanken zuzuschauen. Nicht jeden festhalten. Aber bisweilen staunen über die Gedanken, die da so kommen. Ich erlebe da nicht unbedingt eine Logik dahinter. Zunächst kommen Gedanken einfach. Durcheinander. Wirr. Scheinbar zusammenhanglos. Und in der Natur gelingt es mir, dieses Durcheinander zuzulassen. Da kann ich leichter zuschauen und muss nicht gleich Ordnung in mein Denken bringen und womöglich auch noch werten. Das entspannt mich, entlastet mich. Wenn ich da so sitze und aufs Wasser schaue, erlebe ich zunächst meistens wenig bis gar nichts. Dann kommt das Gedankenchaos, als würde mein Geist etwas loswerden wollen. Er sprudelt vor sich hin. Da nur zuzuschauen, musste ich erst lernen. Geholfen hat mir, dass ich beruflich viel zuhöre und dabei möglichst nicht werte. Also habe ich mich bemüht, meinem Geist erstmal mit derselben Haltung zu begegnen. Und dabei machte ich die erstaunliche Erfahrung, dass er mit der Zeit ruhiger wurde. Das anfängliche Chaos beruhigte sich selbst. Das wiederum erleichterte es mir, meine nicht-wertende Haltung zu bewahren und so zu trainieren. Es wurde immer einfacher, nur zuzuhören oder eben – wie in dem Bild – zuzuschauen, wie die Gedanken vorüberziehen. Nicht jeder ist wichtig. Nicht jeder muss unbedingt mitgeteilt werden. Und der Geist findet von selbst zur Ruhe, wenn ich ihn nur lasse.

Diese Erfahrung mit mir und meinem Geist wiederum erleichtert mir das Zuhören im Alltag. Ich habe gelernt, dass ich nicht für alles gleich eine Lösung finden muss. Ich kann zuhören und Raum geben und versuchen, werfrei zu warten, was sich entwickelt. Und siehe da, bisweilen entstehen da Lösungen, die ich gar nicht gedacht habe.

Vielleicht mag der eine oder andere das mal für sich selbst ausprobieren. Und wer damit Mühe hat, kann gern bei mir konkret nachfragen. Ich helfe gern dabei, zu dieser selbstberuhigenden und damit wertschätzenden inneren Haltung zu finden.

Autor: Ulrike Dauenhauer – Praxis Doppelpunkt

Wenn Streit weiter wirkt

Zanke niemals in Gedanken mit jemand. Das verbittert das Gemüt oft mehr als wirklicher Streit und ist die Ursache vieler innerer Unruhe. (Carl Hilty) - www.doppelpunkt-praxis.de

Wer kennt das nicht, dass einen ein Streit nicht loslässt? Ich erlebe hier in meiner Arbeit immer wieder Menschen, die mit jemand Streit hatten oder etwas als verletzend empfunden haben und darunter leiden. Dann werden mir Geschichten erzählt, die manchmal schon Jahre oder Jahrzehnte her sind. Aber der Mensch, der vor mir sitzt, erlebt es, als wäre es gerade jetzt, in diesem Moment, wo er mir dies erzählt. Da wird durch die Erzählung die ganze alte Geschichte wieder so aktuell, als würde sie jetzt ablaufen. Bis zu diesem Zeitpunkt, wo mir diese Geschichte erzählt wird, wurde sie meist schon etliche Male erzählt, teils hörbar für einen anderen, teils unhörbar im eigenen Kopf. Und jedesmal wirkte sie, als wäre es genau jetzt so, als hörte der Mensch die verletzenden Worte jetzt und würde den Schmerz über diese Situation jetzt erleben. Da wirkt der Streit in Gedanken also schon sehr lange und die Wunde in der Seele kann nicht heilen oder wird sogar mit der Zeit immer tiefer.

Wenn wir in Gedanken eine Auseinandersetzung fortsetzen, uns weiter grämen, weiter dem anderen grollen, weiter die Ungerechtigkeit, die uns widerfahren ist, füttern, verbittert das Gemüt. Die Seele leidet weitaus länger als nur in dem Moment, wo das Unrecht geschehen ist. Somit vertiefen wir selbst den Schmerz, wenn wir uns im Innern nicht davon weg bewegen, nicht in uns einen Weg finden, diesen Schmerz zu beenden, indem wir beginnen, ihn los zu lassen.

Dazu kann es verschiedene Wege geben. Wir schauen in unserer Arbeit hier mit jedem einzelnen, welcher Weg für ihn gangbar ist und wie er seinen inneren Frieden wiederfinden kann. Auch wenn ich mit dem anderen vielleicht keinen Frieden machen kann, kann ich ihn doch in mir selbst finden. Allein ist das nicht immer so leicht, weil wir in unseren Gedankenkreisen festhängen. Aber gemeinsam lässt sich da viel bewegen, helfen Sichtweisen von außen und bis zu dem Moment neue Impulse und auch körperliche Erfahrungen, wie es sich anders anfühlt, wenn es in einem wieder ruhiger und friedlicher wird. Nachlassender Schmerz ist spürbar. Und dieses Gefühl, dass es leichter wird, hilft, den Weg dann weiter zu gehen.

Autor: Ulrike Dauenhauer – Praxis Doppelpunkt

Ausnahme

Es ist traurig, eine Ausnahme zu sein. Aber noch viel trauriger ist es, keine zu sein. (Peter Altenberg) - www.doppelpunkt-praxis.de

Tja, was will ich nun sein, Ausnahme oder „Regel“? Will ich meine Individualität deutlich machen oder will ich erkennbar sein als Teil einer Gruppe und mich mit dieser identifizieren? Ich glaube, wir alle stecken da oft in diesem Dilemma, wollen irgendwie beides und vielleicht auch keines von beidem. Ich will einfach nur ich sein. Das ist reicht doch.

Als Teil einer Gruppe erfahre Zugehörigkeit und bin somit nicht allein. Ich genieße deren Unterstützung und Schutz, das macht mich ein wenig (oder sehr) stark. Mit dieser Zugehörigkeit kann ich mich leichter von anderen abgrenzen. In der Gruppe habe ich Maßstäbe, die mir Orientierung geben können für unterschiedliche Bereiche meines Lebens.

Andererseits möchte ich doch auch als ganz eigenes Individuum gesehen und geschätzt werden. Und das bedeutet, dass ich meine Anders-artigkeit, meine Einzig-artigkeit lebe und damit deutlich mache, dass ich eine Ausnahme bin. Vielleicht braucht es dafür etwas mehr Selbstsicherheit, weil ich ja die Sicherheit der Gruppe nicht habe. Das kann anstrengend sein, aber auch sehr lohnenswert. Mit der Ausnahme kommt für mich also auch die Aufgabe, die Aufgabe, mich kennen zu lernen, zu entwickeln, zu verstehen, zu lieben in meinem Sosein.

Es gibt Momente und Menschen, die einem diese Tatsache, dass man eine Ausnahme ist, in eher unfreundlich-vorwurfsvoller Art sagen. Das kann verschiedene Gründe haben. Vielleicht bin ich in meinem Sosein eben für mein Gegenüber etwas mühsamer als andere. Dann will dieser Mensch das wohl damit zum Ausdruck bringen. Aber heißt das für mich, dass ich anders sein müsste? Es ist nicht meine Aufgabe, so zu sein, wie der andere mich haben will, damit ich für ihn möglichst „pflegeleicht“ bin. Ich darf so sein, wie ich bin, mal mehr Mitglied einer Gruppe mit allen zugehörigen Vorteilen und mal eben auch Ausnahme. Und was ich jeweils mehr bin, darf ich selbst entscheiden.

Gelegentlich ist es sogar sehr wichtig, die Ausnahme zu sein und zum Beispiel in einer Gruppe deutlich eine andere Haltung zu vertreten und damit die Gruppe zum Nachdenken und/oder anderen Handeln anzuregen.

Ich will es daher nicht mehr als Kritik hören, wenn mir jemand sagt, ich sei eine Ausnahme.

Autor: Ulrike Dauenhauer – Praxis Doppelpunkt

Entwicklung und Irrtum

Entwicklung - ein Taumel von einem Irrtum zum anderen. (Henrik Ibsen) - www.doppelpunkt-praxis.de

Als ich über dieses Zitat von Ibsen stolperte, habe ich mich gefreut. In dieser Definition wird der Irrtum zu einem selbstverständlichen Teil von Entwicklung. Das nimmt Druck und baut Stress ab. Ich muss nicht fehlerfrei sein. Ich muss in allen Überlegungen, bevor ich mich für (oder gegen) irgendetwas entscheide, nicht total sicher sein. Ich kenne viele Menschen, die sich selbst blockieren aus Angst vor Fehlern. Aber hier darf der Irrtum, der Fehler vorkommen. Er gehört ganz selbstverständlich zur Entwicklung dazu. Ich lerne durch Fehler und das nicht nur in jungen Jahren, sondern auch als Mensch mit mehreren Jahrzehnten Lebenserfahrung.

Wenn ich heute zurück blicke, hat sich einiges in meinem Leben verändert. Einstellungen zum Beispiel. Dinge, die ich in jungen Jahren für gut und richtig hielt, sehe ich heute anders. Manchmal bin ich weiter geworden, manchmal vielleicht ganz anders. Aber deswegen ist das, was ich früher gedacht und entschieden habe, ja nicht falsch, weil ich es heute anders sehe (und heute ggf. auch anders machen würde, wenn ich wieder in eine sehr ähnliche Situation käme). Was ich in meinem Leben getan habe, habe ich immer mit dem Wissen und den Kenntnissen getan, die ich jeweils hatte.

In gewisser Weise habe ich es jeweils auf die beste Art, die mir damals möglich war, getan. Später kamen weitere Erfahrungen, neue Kenntnisse, andere Blickwinkel hinzu, die die Dinge von früher in einem anderen Licht erscheinen lassen. Aber deswegen sind diese Dinge nicht falsch. Ich habe mich weiter entwickelt und da gehörten manchmal auch Irrtümer dazu.

Dies heute als Entwicklung in ihrer Ganzheit – mit Rückschlägen, Fehlern und Irrtümern – zu sehen, macht mir die Rückschau leichter. Ich darf mit mir selbst gnädig sein, auch und gerade im Hinblick auf Irrtümer. Die sind nur schlimm, wenn wir drin verharren. Wenn wir sie erkennen, sind sie gute Chancen für uns, etwas anders zu machen. Und wenn wir sie im Rückblick auf unser Leben entdecken, zeigen sie uns, wie wir uns weiter entwickelt haben, weil wir diese Dinge eben jetzt anders sehen und/oder anders machen würden.

Autor: Ulrike Dauenhauer Praxis Doppelpunkt

Ende vom Streit

Nichts ist häufiger, als dass am Ende eines Streits beide Gegner um die Wette Unsinn reden (Ferdinando Galiani) -www.doppelpunkt-praxis.de

Wer kennt das nicht, Streit? Sicher hat jeder von uns schon einmal Streit erlebt. Manchmal ist es ein kleiner Streit, der schnell beigelegt ist. Manchmal wird daraus eine über Jahre und Jahrzehnte dauernde Familienfehde.

Je länger ein Streit dauert, umso absurder wird er meist. Mit zunehmender Länge der Auseinandersetzung kommt auch unsere Erinnerung, wer wann was gesagt oder getan hat, zum Tragen. Und unsere Erinnerung kann uns leicht täuschen. Nur neigen wir alle zu gern dazu, unseren eigenen Erinnerungen zu trauen, als wären sie Video-Aufzeichnungen in unserem Gehirn, die gegen jede Änderung oder Überarbeitung immun sei. Aber genau das stimmt nicht. Wir verändern unsere Erinnerungen permanent. Jede neue Erfahrung, die wir machen, führt zu einer neuen Bewertung bereits in der Vergangenheit erlebter Dinge. Und diese neu Bewertung des bereits Vergangenen kommt als Erinnerung in uns zum Vorschein, die uns glauben machen will, es sei alles anders gewesen (oder es stellt sich nun, nachdem weitere Informationen hinzugekommen sind, völlig anders dar).

Dann wird außer über das eigentliche Streitthema auch darüber gestritten, was bisher war und wer was gesagt hat und wie er es gemeint hat. Auch das meinen wir gern besser zu wissen, was der andere gemeint hat. Zwar handelt es sich dabei um eine Vermutung oder Interpretation. Aber wir verhalten und sprechen oft so, als wären wir da besser darüber informiert, was gemeint war, als unser Gegenüber, das gesprochen oder gehandelt hat.

Unser damit immer verworrener werdendes Bild des aktuellen Streites – veränderte Erinnerungen, Überzeugungen über den anderen und seine Motivation bzw. über Bedeutung von Gesagtem und unsere damit verbundene Selbstsicherheit hinsichtlich der „Fakten“ des Streits – macht eine Lösung immer schwieriger. Deswegen reden am Ende oft beide Seiten nur noch Unsinn. Wenn auch hier wieder nur der Unsinn der Gegenseite wahrgenommen wird – der selbst fabrizierte Unsinn jedoch als solcher nicht gesehen wird – droht eine weitere Eskalation. Wir sind vom Frieden noch weiter entfernt als vorher.

Hier ein paar Lösungsvorschläge:
– Bleibe selbst fair.
– Hinterfrage deine eigenen Erklärungen des Streits und erhebe sie nicht zur einzigen Wahrheit.
– Glaube dem anderen, was er sagt.
– Hinterfrage weniger was der andere sagt und interpretiere weniger wie er es sagt.
– Frage nach, wenn dir seltsam vorkommt, was der andere sagt. Frage nach, bis du verstanden hast.
– Signalisiere, dass du um Verstehen bemüht bist und nicht nachfragst, um dem anderen dann das Wort im Munde zu verdrehen.
– Signalisiere, dass du die Sache mit ihm lösen willst und es dir nicht ums Gewinnen geht.
– Bleibe partnerschaftlich. Da hat gewinnen-wollen nichts zu suchen.

Autor: Ulrike Dauenhauer Praxis Doppelpunkt

Zeit relativ und absolut

Es gibt nichts, das so absolut ist wie Zeit und nichts, das so relativ ist wie ihre Dauer. (Josef Bordat) - www,doppelpunkt-oraxis.de

Wir alle erleben Zeit immer wieder sehr unterschiedlich. Sie scheint verschieden schnell zu vergehen, obwohl wir wissen, dass dies nicht wirklich so ist.
An der absoluten Dauer von etwas kann ich nichts ändern, sehr wohl aber an meinem Erleben. Ich kann lernen, bewusst zu genießen. Dies verändert die Wahrnehmung der verstreichenden Zeit und macht Momente intensiver. Intensiv erlebte Momente nenne ich Lebensqualität.

Zeit ist ein kostbares Geschenk. Ich freue mich immer wieder darüber, wenn Menschen mir schenken, dass sie Zeit mit mir verbringen wollen. Lebenszeit mit jemandem teilen, schafft Nähe und Vertrauen, pflegt und erhält Beziehungen und ist damit eine wichtige Vorsorgemaßnahme für die eigene Gesundheit – seelisch und körperlich.

Wie erlebt Ihr Zeit? Wie geht Ihr mit Zeit um?

Autor: Ulrike Dauenhauer – Praxis Doppelpunkt

Wirklichkeit erfahren

Das Leben ist kein Problem, das es zu lösen, sondern eine Wirklichkeit, die es zu erfahren gilt. (Buddha) - www.doppelpunkt-praxis.de

Das Leben ist kein Problem, das es zu lösen, sondern eine Wirklichkeit, die es zu erfahren gilt. (Buddha) – http://www.doppelpunkt-praxis.de

Für diesen Spruch habe ich lange nach einem Bild gesucht.

Manchmal könnte man meinen, wir er-fahren heute die Welt. Wir setzen uns ins Auto und fahren irgendwo hin. In manchen Ländern habe ich als Reisende sogar das Gefühl gehabt, dass es Menschen gibt, die wirklich nur fahren. Von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit, Foto machen und wieder rein ins Auto oder in den Bus. Oder von Aussichtspunkt zu Aussichtspunkt, Foto machen und weiter.

Aber natürlich ist hier nicht das Fahren mit dem Auto gemeint. Wirklichkeit erfahren, bedeutet ja viel mehr. Ganz grundsätzlich muss ich dafür ja nirgendwo hin fahren. Ich muss mich sogar gar keinen Millimeter bewegen. Die Wirklichkeit kann ich überall und jederzeit erfahren. Ich muss nur dafür bereit sein. Und an dem Punkt wird es spannend, finde ich.

Wirklichkeit ist für mich nichts Theoretisches. Sie wirkt. Auf mich. Ganz konkret. Sie bewirkt etwas bei mir. Und jeder hat seine eigene Wirklichkeit. Denn die Wirklichkeit, die ich erlebe, hat immer sehr viel damit zu tun, wie ich das, was ich erlebe, einordne, also welche bereits in mir bestehenden Ordnungssysteme zum Einsatz kommen.

Da hätte ich also die Möglichkeit, diesen Moment jetzt gerade zu erleben, aber dann signalisiert mir mein Smartphone, dass es noch andere Dinge gibt. Ich habe die Möglichkeit, zu wählen, welcher Wirklichkeit ich nun den Vorrang gebe. Bisweilen erlebe ich Menschen, die scheinen sich dieser Wahlmöglichkeit nicht bewusst zu sein.

Oder ich telefoniere. Da habe ich auch eine Wirklichkeit und ein ganz wirkliches Gegenüber, auch wenn ich es nicht sehe. Aber ich kenne Menschen, die spielen nebenher noch ein PC-Spiel. Das ist eine Unart, die ich auch mal hatte. Und ich gebe zu, dass es mir nicht leicht fiel, sie zu lassen. Aber was erfahre ich denn von meinem Gegenüber, wenn ich mich nicht GANZ auf die Erfahrung mit ihm einlassen will, sondern nebenher noch was anderes mache? Was ist mir mein Gegenüber wert, wenn ich die Zeit, die ich gerade habe nicht allein in dieses Gespräch geben will, sondern nebenher noch etwas anderes – wirklich völlig unwichtiges – tue? Will ich dem anderen so wenig wert sein?

Wir leben einerseits in einer Welt mit ungeahnten Möglichkeiten. Das kann schön sein, aber auch anstrengend. Ich kann vor lauter Möglichkeiten dahin kommen, dass ich es als Stress erlebe, wenn ich nicht möglichst viel davon erlebe und das geht eben nur, wenn ich Dinge nebeneinander tue. Aber ich kann meine Aufmerksamkeit nicht wirklich teilen. Dazu gibt es genug Studien. Ich kann – mehr oder weniger erfolgreich – mit meiner Aufmerksamkeit immer wieder zwischen Dingen hin und her springen. Aber in einem Moment kann ich immer nur mit einer Sache befasst sein. Die schnelle Abfolge der Wechsel suggeriert uns, wir könnten Dinge gleichzeitig parallel tun. Der Effekt ist dann aber, dass mir auf beiden Kanälen etwas verloren geht. Ich werde letztlich ärmer, nicht reicher. Ich erfahre nicht mehr vom Leben, sondern von mehr Dingen immer weniger.

Und damit kommen wir zum ersten Satzteil, dass Leben kein Problem sei, dass es zu lösen gilt. Der Lösungsansatz, dass ich die vielen Möglichkeiten und Chancen, die mich ja alle irgendwie weiter bringen können, besser nutze, indem ich eben vieles versuche, gleichzeitig zu tun und zu erleben, ist einfach falsch.

Vielleicht hätten wir insgesamt viel weniger Probleme, wenn wir weniger lösen wollten, sondern uns vorab erstmal wirklich und intensiv auf das Erfahren einlassen würden, womit wir beim zweiten Satzteil wären. Damit würden manche Lösungsideen nämlich nicht mehr Theorien sein über etwas, worüber wir nachgedacht haben. Wir hätten echte Erfahrungen, die vielleicht plötzlich aus einem Fakt, den ich aktuell noch als Problem definiere, eine neue Einsicht werden ließen.

Ich erlebe nicht selten in meiner Arbeit, dass geduldiges und detailliertes Nachfragen beim Gegenüber bewirkt, dass er sein „Problem“ ganz neu sieht und selbst schon die Lösung findet. Oder ich mache mit meinem Gesprächspartner die erstaunliche Feststellung, dass er/sie mir über „das Problem“ manches gar nicht sagen kann, weil er/sie sich auf die Erfahrung gar nicht wirklich eingelassen hat. Es wird etwas als großes Problem dargestellt, aber es ist dem Sprecher so unbekannt, dass er/sie mir viele Details dazu gar nicht sagen kann. Das finde ich schon bemerkenswert.

Wenn ich mich auf Erfahrungen einlasse – also im Moment bin, wo ich etwas erlebe und versuche, dies mit allen Sinnen zu erleben – werde ich vermutlich viel mehr über das Leben und mich selbst erfahren, als wenn ich mich zu oft mit dem Lösen – bisweilen vermeintlicher – Probleme beschäftige.

Und deswegen wünsche ich allen, die diesen langen Text nun bis hierher gelesen haben, viele ermutigende und stärkende Erfahrungen.

Autor: Ulrike Dauenhauer Praxis Doppelpunkt

Andere aufnehmen

Um andere aufnehmen zu können, muss man bei sich selbst Platz schaffen. (Hermann Gilhaus) - www.doppelpunkt-praxis.de

Geduldige Schafe passen viele in einen Stall, heißt ein Sprichwort. Nun kenne ich mich mit Schafen nicht wirklich aus. Wie viele da auf wie vielen Quadratmetern gehalten werden können oder dürfen, weiß ich nicht. Aber es geht hier ja nicht um Tierschutz, sondern um etwas Grundsätzliches. Welche Voraussetzungen braucht es, um jemanden oder etwas aufzunehmen?

Hier hat also ein Baumstumpf neue Pflanzen aufgenommen. Da wächst etwas, wo vorher eher wenig Leben war. Das finde ich faszinierend. Etwas Vorhandenes bietet offenbar einfach durch sein Dasein etwas Neuem Raum. Könnte mir das ein Beispiel sein?

Wenn ich mir neue Möbel kaufen will, muss ich meistens vorher Platz schaffen. Ich muss einen Raum haben, wo ich die neuen Möbel aufstellen kann. Dafür mache ich mir meist vorab Gedanken. Ich mache quasi Räumaktionen in meinem Kopf und versuche mir vorzustellen, wo ich die neuen Möbel aufstellen will und wie es dann aussehen wird.

Wenn ich Gäste habe, ggf. über Nacht, muss ich mir vorab überlegen, wie ich diese unterbringen kann. Da wird im Bad etwas mehr Platz gebraucht, damit auch meine Gäste ihre Utensilien unterbringen können. Da werden wir vermutlich irgendwo das Gepäck unterbringen. Das liegt – weil ich kein eigenes Gästezimmer habe – meist da, wo meine Gäste schlafen, also im Wohnzimmer. Mein Wohnzimmer sieht dann vorübergehend etwas anders aus. Da liegen dann Sachen, die nicht meine sind. Da wird es überall ein wenig enger und beide Seiten müssen damit wohlwollend umgehen, damit es eine schöne Zeit wird. Und ja, ich muss es gestehen, da gibt es Gäste mit denen es einfacher ist und solche, die ein wenig anstrengender für mich sind. Aber es sind jeweils meine Gäste und ich werde sie mit entsprechender Sorgfalt und Freundlichkeit behandeln. Wenn ich woanders Gast bin, möchte ich ja auch freundlich behandelt werden.

Ich bin also vorab gefragt, in meinem Kopf Raum zu schaffen für diese Situation. Zu den Veränderungen in meinem Lebensraum und in meinen Abläufen muss ich mir Gedanken machen und muss bereit dazu sein. Die Vorarbeit im Kopf ist wohl die wichtigste. Kann ich mich mit den vorübergehenden – oder auch mal länger dauernden – Abweichungen in meinen Ge-Wohn –heiten anfreunden?

Es gibt Menschen, die gerne Gäste haben und solche, die das eher lästig finden. Bei aller Arbeit, die Gäste auch machen, bringen sie doch immer auch neue Ideen, Erfahrungen, Erlebnisse, Gesprächsstoff und jede Menge Dinge mit, die mein Leben bereichern. Ich erfahre Neues aus anderen Familienkulturen oder auch Landeskulturen, kann teilhaben an dem, was meinem Gast so alles widerfahren ist, kann tolle Tipps bekommen und vielleicht gibt es sogar eine Gegeneinladung. Dann kann ich meinen Gast mal in seinem Umfeld erleben, kann dort Gastfreundschaft erfahren und die Art, wie sie dort gepflegt wird. Für mich sind das alles Möglichkeiten, anderen näher zu kommen, sie kennenzulernen. Damit wird mir Fremdes langsam bekannt und vertraut. Ich werde freier und sicherer. Somit sind dies alles für mich Schritte hin zum Frieden.

Ich wünsche uns allen mehr Gastlichkeit, ob nun Einheimischen oder Ausländern gegenüber.

Autor: Ulrike Dauenhauer – Praxis Doppelpunkt