Wie geht es weiter?

Gehe soweit, wie du sehen kannst, denn wenn du dort angekommen bist, wirst du sehen wie es weitergeht. - www.doppelpunkt-praxis.de

Wir sind vom Urlaub im polnischen Urwald zurück und haben die Zeit dort wieder sehr genossen. Wenn wir dort mit dem Kajak unterwegs sind, erleben wir unterschiedliche Situationen, in denen wir nicht sehen können, wie es weiter geht. Einmal sind da Flussbiegungen, die uns die weitere Sicht versperren, dann wieder ist es Schilf, durch das unser Weg führt und das uns die Sicht nimmt, wieder an anderen Stellen treffen wir auf Hindernisse – Bäume im Wasser – die es zu überwinden gilt und wo wir durch das Hindernis zunächst auch einmal nicht sehr weit schauen können. Jedes mal heißt es, sich der Stelle nähern und sichten, was dort ist. Bei Flussbiegungen, geschieht diese Annäherung sehr vertrauensvoll, denn der Fluss wird ja nicht einfach in einer Sackgasse enden. Beim Schilf ist es schon nicht mehr so klar, wie es weiter geht. Manchmal sehen wir einen Meter weit, manchmal ein Stückchen weiter. Dann heißt es, sich vortasten, Meter um Meter sich vorarbeiten. Das kann bisweilen sehr anstrengend sein und viel Kraft kosten. Bisher erwartete uns jedoch hinter jeder Barriere etwas, es ging weiter, oft war es danach wunderschön, manchmal regelrecht verwunschen und märchenhaft.

Wir können also nur sagen, dass es sich lohnt so weit zu gehen – oder Kajak zu fahren – wie man sehen kann, um sich dann überraschen zu lassen von dem, was dann kommt und wie es da weiter geht. Das gilt jeden Tag im Leben.

Autor: Ulrike Dauenhauer – Praxis Doppelpunkt

Brandnacht in Darmstadt

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9/11 Elfter September 1944

Kürzlich war ich zum Klassentreffen in Darmstadt: 40 Jahre Abi. Daran erkennt man, dass man älter wird. Oder auch daran, dass man sich seine ehemaligen Klassenkameraden genauer anschaut. Bei sich selbst merkt man den Alterungsprozess nicht so sehr.

Einer unserer ehemaligen Lehrer hatte für uns eine bilinguale Führung durch Darmstadt vorbereitet: deutsch und hessisch. Viele unserer Klassenkameraden stammten nicht aus Darmstadt, sondern kamen aus allen Teilen der damaligen Bundesrepublik. Der Besuch der Internatsschule am Rande eines Vorortes trug nicht dazu bei, die ehemalige Residenzstadt näher kennen zu lernen. So war diese geführte Tour Jahrzehnte später informativ, humorvoll und nachdenklich zugleich.

Die meisten von uns wussten z.B. nicht, dass Darmstadt ein 9/11 erlebt hat. Es war die Brandnacht vom 11. auf den 12. September 1944. Ein Geschwader der Britischen Air Force legte 5 Minuten vor Mitternacht mit 234 Bombern die Stadt in Schutt und Asche. 99% der Innenstadt wurde dabei zerstört – sprichwörtlich ruiniert.
Nicht nur nach heutigen Maßstäben war dies ein Akt der Grausamkeit an der Zivilbevölkerung und somit ein Kriegsverbrechen. Etwa 11.500 Menschen sollen allein in dieser Nacht den Tod gefunden haben. Jedes fünfte Opfer war ein Kind!

Ähnlich wie bei der berühmten Gedächtniskirche in Berlin stehen die Reste einer Kapelle als Mahnmal an das damalige Geschehen. Jährlich gedenkt man in einer kleinen Prozession dieses schrecklichen Ereignisses.
Eine Bronzestatue zeigt einen gebeugten, vor Schmerz verzerrten Körper, der in die Knie geht. Davor ist im Boden ein Spruch eingelassen, den Karl Krolow, ein deutscher Schriftsteller, der 1999 in Darmstadt verstarb, formuliert hat:

In Deutschlands dunkelster Zeit
gekrümmt von der Macht und im Leid
Ohne Hoffnung doch hoffnungsbereit
Für den Frieden in unserer Zeit.

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Dass Gewalt zu Gewalt führt, zeigt die Geschichte mannigfach. Aber die Geschichte lehrt uns auch, dass der Mensch aus der Geschichte nicht lernt. Auch heute noch lassen die Mächte in Ost und West ihre Muskeln spielen, halten Manöver ab, im Glauben, damit den vermeintlichen Gegner einschüchtern zu können. In Nord und Süd gibt es Machthaber, die bereit sind, ihre Macht auszuspielen: Intoleranz, Unterdrückung, Folter, Todesstrafe. Aber davor steht die Gewaltbereitschaft, die Bereitschaft, mit Gewalt politische und persönliche Interessen durchzusetzen, notfalls auch prophylaktisch.

Der aufstrebende Nationalismus in Europa und anderswo sind Vorboten einer Zukunft, die wieder wie damals schon Wind sät. Ich hoffe, die Ernte nicht mehr miterleben zu müssen.

© Matthias Dauenhauer – Praxis Doppelpunkt